Wie stehst du zu Putin? Eine Frage des Charakters.

Vor 26 Monaten fragte ich in einem Artikel Wie stehst du zu Greta? Eine Frage des Charakters. Es wird Zeit, diese Reihe fortzusetzen – aus gegebenen politischen Anlass. Nun, ich würde sagen, dass der Standpunkt zum russischen Präsidenten Putin weniger als Charakterfrage zu beantworten ist, dann wäre das nämlich eine recht statische Angelegenheit. Ich illustriere sie lieber anhand der Methode der Spiral Dynamics, also einer dynamischeren Beschreibung: Die Haltung zu Putin ist nämlich viel besser damit zu erklären, mit welchen Werte-Memes ein Bewusstsein aktuell gerade am meisten geprägt ist.

Spiral Dynamics Weltpolitik

Im folgenden Text werde ich auf die jeweiligen Farben verweisen. Eine nähere Erläuterung der Memes gibt es in einem anderen Artikel.

 

Der rückblickend scheinbar alternativlose Putin

 

Der Erfolg Vladimir Putins erklärt sich durch zwei Linien, die sich Ende der 1990er kreuzten: Die eine ist der gesellschaftliche, politische, militärische und wirtschaftliche Zustand Russlands während der Jelzin-Ära und die andere ist der persönliche wie berufliche Entwicklungspfad des Vladimir Putin. Beides lässt sich ebenfalls an anderer Stelle ausführlich nachvollziehen, beispielsweise in einem Buch von Boris Reitschuster. Von dessen jüngeren Veröffentlichungen möchte ich mich ausdrücklich distanzieren.

Vladimir Putin Pixabay

 

Spiraldynamisches Russland

 

Kurz bevor die Sowjetunion entstand, befand sich Russland und mit ihm viele der später eingegliederten Sowjetrepubliken (im besonderen Maße die Ukraine) in einem fürchterlichen Bürgerkrieg, der für das Land weit schlimmer war als der gerade zu Ende gegangene Erste Weltkrieg. Dass die Revolution und acht Monate später der bolschewistische Staatsstreich erfolgreich sein konnten, hatte seine Gründe in einer tiefen wirtschaftlichen und staatlichen Krise des Zarenreiches. Das blaue Meme konnte sich in adligen, kirchlichen, kulturellen und beginnenden industriellen Kreisen zwar etablieren, in großen Teilen der Bevölkerung jedoch waren die Memes Beige, Purpur und Rot noch wesentlich dominanter als in den mittel- und westeuropäischen Staaten. Eine rationale und rechtsstaatliche Ordnung (Orange) konnte nicht einmal in Ansätzen aufkeimen und das wenige, was in Keimen vorhanden war, wurde durch die leninistisch-stalinistische Gewaltherrschaft vernichtet bzw. in das westliche Ausland vertrieben. Mit Hilfe der marxistischen Ideologie und nicht zuletzt durch die Katharsis des militärischen Erfolges im Zweiten Weltkrieg konnten blaue Meme-Strukturen gebildet werden. Die Basis bildete der Mythos des „großen Vaterländischen Krieges geführt durch die ruhmreiche Rote Armee“. Wirklich etablieren konnte sich Blau allerdings erst während der Breschnew-Ära. Sein Nachfolger Andropow (zuvor langjähriger KGB-Chef) verfügte durchaus über Weitblick und Weisheit, konnte notwendige und geplante Strukturveränderungen aufgrund seines Gesundheitszustandes und baldigen Ablebens jedoch nur in Ansätzen auf den Weg bringen. Gorbatschow war zwar gut im Formulieren blumiger Metaphern, hatte möglicherweise auch eine Ahnung vom orangefarbenen, eventuell sogar grünem Meme, ihm fehlte es jedoch gänzlich an Spiralbewusstsein. Seine Anerkennung im Westen verblendete ihn möglicherweise zusätzlich, sodass von Fingerspitzengefühl für eine Transformationsarbeit innerhalb seines Staates keine Rede sein konnte.

 

Die Staatskrise gipfelte 1991 im Putschversuch, der Machtverschiebung Richtung Boris Jelzin und dem Zerfall der Sowjetunion. Aus der Ferne beobachtete der damals noch junge Geheimdienstler Vladimir Putin diese Schmach wahrscheinlich mit großer persönlicher Anteilnahme. Wir Unternehmercoaches würden sagen: Hier wurde sein elementares Grundmotiv auf empfindsame Weise verletzt und setzte die unbändige Mission frei, sein Land aus dieser Schmach zu neuer Größe zu führen. Herausragende Intelligenz, strategisch-taktische Finesse, exzellente geheimdienstliche Schulung und ein Netzwerk ebenfalls gut ausgebildeter aber ihrer Sinnhaftigkeit zeitweilig beraubter KGB- und Armee-Offiziere sind rückblickend betrachtet fast folgerichtige Garanten für seine Präsidentschaft. Unter Jelzin versank Russland in ein tiefes Rot: Oligarchen, Russen-Mafia und US-amerikanische Unternehmensberater (im Glauben, ein neoliberales Orange-System auf den Weg zu bringen genauso gescheitert wie 20 Jahre später Demokratie-Heilsbringer in Afghanistan) schienen sich am größten Flächenstaat der Welt gütlich zu tun, sicher nicht immer nur mit den abgründigsten Absichten.

 

Putin versteht sich kongenial auf Rot, ist von diesem Meme durchdrungen, versteht jedoch auch blaue und orangefarbene Partituren auf der Klaviatur zu simulieren – ganz der Geheimagent. Mit dem grünem Meme kann er wenig anfangen, wie ein mehrstündiges Interview geführt durch den Filmregisseur Oliver Stone ganz am Ende entlarvt. Dennoch ist die Zeit für Putin abgelaufen: Russland konnte sich militärisch und wirtschaftlich konsolidieren, aber der Bär ist träge, eine Zivilgesellschaft (orange-grün) ist von Putin nicht vorgesehen. Stattdessen regiert die Angst, eine pluralistische Gesellschaft würde das ganz auf die Person Putin zugeschnittene und daher höchst fragile Staatsgebilde empfindsam ins Wanken geraten lassen. Wirtschaftlich ist Russland auf der Stufe eines verhinderten Schwellenlandes stehengeblieben. Zusammengehalten wird es von dem Anspruch, eine Militärmacht von alter Größe zu sein. 

 

Mythen – oh ihr zuckersüßen Pillen

 

Das rote Meme ist das Macho-Meme, der starke wehrhafte Mann. Der braucht einen Feind und das ist die Nato, der Westen, der Russland gedemütigt habe. Gorbatschow gilt nun als westliche Marionette, als Landesverräter. Der Familie Jelzin hat Putin sein Wort gegeben. Sie bleibt unbeschadet und fällt als Sündenbock aus. Den Oligarchen hat er das Wort abgerungen, sich aus der Politik herauszuhalten – der berüchtigte Barbecue-Deal. Der blaue Staat ist eigentlich nur Fassade. Putin selbst sieht durch die rote Brille Bedrohungen seiner Macht und absolut realistisch auch eine Bedrohung für die innere (!) Stabilität Russlands. Denn es gibt faktisch niemanden, der eine Alternative darstellt. Fällt eigentlich auf, dass ich Medwedew bislang nicht erwähnt habe? Das war es mit ihm dann auch schon. Putin weiß, dass er – in diesem Falle der innenpolitischen Strategie nordkoreanischer Herrscher nicht unähnlich – innere Stabilität durch äußere Kraftprotzerei erzeugt.  

 

Warum erfreut sich Putin aber so großer Solidarität, vor allem im Osten Deutschlands? Erstens gelingt es ihm vortrefflich, seine Narrative – nicht zuletzt über den Kanal RT – zu verbreiten. Der Osten Deutschlands ist von je her NATO-skeptisch. Auch dafür gibt es emotional nachvollziehbare Gründe, die ich aus eigenem Erleben gut kenne. Hinzu kommt das Unbehagen an der unübersichtlichen komplexen westlichen VUCA-Welt, durchdrungen vom grünen Meme, welches zudem nun so gar nicht dem Bedürfnis nach klarer starker maskuliner Politik folgt – ein Vakuum, das die AfD hierzulande und in Übersee Trump und Bolsonaro prima zu füllen verstehen. Dann gibt es noch eine politisch motivierte Bildungslücke: Weder im Westen noch in der DDR mochten die Leute (es sei denn sie waren engagierte Mitglieder der DSF, der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft) zwischen Sowjetunion und Russland unterscheiden. So kommt es noch immer zu der landläufigen Auffassung, die heute souveränen Staaten Ukraine, Litauen, Lettland, Estland, Moldawien, Georgien und so weiter seien irgendwie eigentlich Teil Russlands und wenn es da Konflikte gibt, sei eigentlich Russland immer im Recht. Die Tschetschenien-Kriege hätten zudem vorgeführt, Russland bekämpfe dort islamistische Terroristen. Dass die drei baltischen Staaten noch nicht einmal slawisch sind und zwischen 1918 bis 1940 zur westlichen Welt gehörende souveräne Staaten vergleichbar mit Finnland waren, gilt scheinbar noch immer als Geheimwissen. Die schrecklichen Verbrechen, die die Sowjetmacht – eigentlich nichts anderes als eine kommunistische Version des zaristischen Kolonialreiches – insbesondere in der Ukraine verübten, werden bis heute nicht so richtig zur Kenntnis genommen. Auch dass Moldawien bis 1945 ein Teil von Rumänien war oder dass Georgier ethnisch genauso wenig mit Russen verwand sind wie Deutsche mit Griechen, interessiert hierzulande nur eingefleischte Osteuropa-Nerds. Mir geht es hier jedoch nicht um eine schulmeisterliche Lehrstunde in Völkerkunde. Ich habe nur den Verdacht, die Ignoranz gegenüber diesen Unterscheidungen führt dazu, dem Putin’schen Narrativ auf den Leim zu gehen, bei der Ukraine handele es sich nicht um einen legitimen Staat, sondern sie sei natürlicher Teil Russlands: so war es bei der Annexion der Krim, der Kampfhandlungen im Donbas, und so ist es heute auch wieder.

 

Im Budapester Memorandum von 1994 verzichtete die Ukraine auf ehemals sowjetische Atomwaffen, die auf ihrem Territorium lagerten. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA, Großbritannien und Russland, die Grenzen und die Souveränität der Ukraine zu achten. Völlig absurd ist die Behauptung, die NATO hätte Russland „eingekreist“ sowie Litauen, Lettland, Estland sowie Polen Russland „weggenommen“ und trachte nun danach, sich in der Ukraine, im Schwarzen Meer, Georgien, Aserbaidschan und sonst noch wo breit zu machen. Ich will hier keinesfalls ein Loblied auf die NATO singen, aber Deutschland kann nicht neutral sein, allein weil Deutschland Mitglied in diesem Militärbündnis ist. Übrigens hat Putin selbst im NATO-Erweiterungsjahr 2004 verlautbart, dass jedes Land das Bündnis wählen solle, das ihm für seine Sicherheit am geeignetsten erscheine. Der Vollständigkeit halber sei mit dem wohl hartnäckigsten Mythos aufgeräumt, nämlich dem angeblichen Versprechen der westlichen Siegermächte und Helmut Kohl an die Adresse von Gorbatschow, man würde sich nach der unabwendbaren Ausweitung der NATO auf das ehemalige Gebiet der DDR never ever nach Osten ausdehnen: Gorbatschow selbst sagte 2014, dass er solch ein Versprechen nicht erhalten habe. Eine spätere Interview-Äußerung ließ sich zwar so deuten, dass es eine vage formulierte mündliche Absichtserklärung gegeben habe, aber eben keine schriftliche Zusicherung. 

 

Brüder im Meme

 

Inwieweit sich Putin vom Philosophen Alexander Dugin inspirieren lässt, kann nur schwer eingeschätzt werden. Der jedenfalls schwärmt davon, Westeuropa zu annektieren und zu Moskaus Protektorat zu machen. In seinen Eurasien-Fantasien gibt es keine Visums-Pflicht mehr für reisende und migrierende Menschen zwischen Lissabon und Wladiwostok, was noch viel größere demografische Konsequenzen haben würde als die offenen Grenzen innerhalb der EU und die Migrationskrise von 2015. Den Österreichern verspricht er ein eigenes souveränes Reich als Bollwerk gegen die immer wieder skizzierte „linksliberal-muslimische Weltverschwörung“, was den österreichischen Identitären Martin Sellner zu dessen prominentesten Fans im Westen werden ließ.

 

Der rot dominierte Trump konnte sich prima mit Putin verbünden, so wie es 50 Jahre früher auch eine Ebene zwischen Mao und Nixon gegeben hatte. Mit Menschenrechtsverbrechen (rot) hatte man weniger ein Problem, als mit der kommunistischen Ideologie (blau). Daher war Pol Pot auch die US-amerikanische Unterstützung gegen Vietnam sicher. Heute verbünden sich weder Joe Biden noch die aktuelle Bundesregierung mit anderen politischen Staatsmännern auf der Ebene des roten Memes. Doch wie begegnen wir Putin? Bleiben wir bei einer blauen (auf Verträge pochenden), orangefarbenen (Wirtschaftssanktionen) oder grünen (an Menschenrechte appellierenden) Kommunikation, wird der Mann uns für wehrlose Schwächlinge halten, mit denen er herumspringen kann – genau das Theater, dass er seiner Bevölkerung vorzuspielen beabsichtigt. Der französische Präsident Macron hat vorgemacht, das mit dem flexiblen gelben Meme bei Bedarf auch die rote Karte ausgespielt werden kann. Man wolle Frieden und sei bereit, diesen im Sinne der souveränen Ukraine auch militärisch beizustehen.

 

Ich bin weit von dem Glauben entfernt, Putin zu durchschauen. Er hat gewiss noch einige Asse im Ärmel.

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Kommentare: 1
  • #1

    Markus Kuntze (Samstag, 12 Februar 2022 12:35)

    Sehr interessant, Klaas! Ich denke, dass auch immer vergessen wird, welche immensen wirtschaftlichen Interessen er und sein Clan-Mitglieder haben (Nordstream ist ja auch Stasi indoktriniert). Putin gilt eigentlich als der reichste Mann der Welt, und das sichert er, wo er nur kann (so sinnlos das auch eigentlich ist), siehe die schnelle Abreise seines "Schiffchens" aus der Hamburger Werft.... Ich traue dem Mann keinen Millimeter über den Weg.