Heute wird viel von Transformationen, von disruptiven Wandel gesprochen. Viele Menschen spüren, dass sich die Strukturen, die im 20. Jahrhundert, teilweise bereits im 19. Jahrhundert, gebildet und verfestigt haben, den aktuellen und künftigen Herausforderungen nicht mehr dienlich sind. Digitalisierung, künstliche Intelligenz, drohender Klimakollaps, wachsende Weltbevölkerung und Migration sind Phänomene, die kaum ein Mensch in ihrer Tragweite und angemessener Tiefe versteht. Parallel lässt sich eine zunehmende global und ökologisch ausgerichtete Werteorientierung sowie eine immer lauter werdende Kritik am neoliberalen Diktat der Märkte beobachten. Nicht nur direkt Benachteiligte wie Frauen, Jugendliche, Transgender und vor allem die wachsende Zahl der Menschen aus Ländern, die einst Kolonien europäischer Staaten waren, melden sich zu Wort, sondern auch Vertreter der Eliten, die eigentlich – was ihren materiellen Lebensstand betrifft – zu den Gewinnern der bereits bestehenden „Weltordnung“ zählen: Namentlich zu nennen wären da George Soros, Bill Gates oder Elon Musk.
Teil der Lösung oder des Problems?
Man könnte es doch eigentlich begrüßen, wenn die Finanzströme aus einer von immer mehr Menschen als ungerecht und krisenforcierend empfundenen Wirtschaftsordnung nicht ausschließlich in egozentrischen Konsum fließt, der zudem die Ressourcen unseres gemeinsamen Planeten arg strapaziert. Was ist denn daran verkehrt, wenn Menschen, die über viel Kapital verfügen, es zum Wohle anderer einsetzen: dafür dass menschliches Leid gelindert, Hungersnöte bekämpft und Kinder nicht mehr an banalen Krankheiten sterben? Wem schadet es, wenn Menschen in ländlichen Räumen der Dritten Welt Zugang zu Strom und dem Internet erhalten, dass sie Bildung erfahren, sich entwickeln können und unabhängiger werden? Was reiche Menschen mit ihren Stiftungen unterstützen, wird nicht von jedermann gleichermaßen gutgeheißen: Manchmal wird das Ziel abgelehnt wie beispielsweise offene Gesellschaften – irrtümlicherweise mit offenen Grenzen gleichgesetzt. Manch einem passt es wohl nicht in den Kram, dass die Vormacht bislang privilegierter Menschen durch Gleichberechtigungsbestrebungen von Minderheiten in Frage gestellt werden. Hoch emotional entbrennt sich die nicht mehr mit- sondern nur noch gegeneinander geführte Debatte um das Impfen: Für die einen eine medizinische Notwendigkeit zur Eindämmung von Krankheiten und Pandemien, zur Verringerung der Kindersterblichkeit in der Dritten Welt. Für andere nichts als ein perfides Geschäftsmodell der von ihnen gehassten Pharmaindustrie bis hin zu der Behauptung, durch Impfen solle die Bevölkerung überwacht, geschwächt oder gar vernichtet werden. Manchmal werden zwar die offenkundigen Ziele milliardenschwerer Philanthropen als ehrenwert goutiert, ihnen jedoch eine bösartige Hidden Agenda unterstellt, als wenn reiche Menschen angeblich nichts Gutes im Schilde führen könnten. Die zur unwiderlegbaren Überzeugung („Die Wahrheit“) ausgeformte Vermutung, eine moralisch verkommene mächtige Minderheit hätte sich gegen die Mehrheit verschworen, bietet einen geistigen Schutzraum für die Zumutungen einer immer unübersichtlicher werdenden und immer weniger durchschaubaren Welt. Medien berichten von Menschen mit Interessen und Ansprüchen, die wir nicht verstehen. Das ist schwer zu ertragen. Immer mehr Menschen mit – glücklicherweise! – höheren Lebensstandards und der Möglichkeit global zu kommunizieren, steigern die Komplexität auf allen Ebenen. Das kann einen schon beängstigen. Wir Menschen haben physiologisch gesehen noch das gleiche Gehirn wie unsere Vorfahren vor 50.000 Jahren, die in Zweckverbänden zur Nahrungsbeschaffung in einer von wilden Tieren und Pflanzen dominierten Umwelt lebten. Dieses Gehirn tut sich schwer mit einer sich rasch verändernden Welt ohne konstante Muster. Es tut sich schwer mit der Vorstellung, es gäbe keinen übergeordneten Plan. Es tut sich schwer mit dem Gedanken, es gäbe keine geheime Instanz, die Natur und Menschheit höheren Zielen folgend lenkt. Wir Menschen selbst sind es, die durch den Einfluss auf unsere Umwelt über Jahrtausende, vor allem der letzten 200 Jahre, die Zumutungen erzeugt haben, die uns heute ein historisch einmalig komfortables wie komplexes und gleichermaßen unverständliches Leben schenken.
Gesellschaften verstehen – Spirale Dynamics®
Um die Missverständnisse und eigentlich unnötigen Verwerfungen zu verstehen, hilft mir das Modell der Spiral Dynamics. Es beschreibt die spiralförmige Entwicklung der Menschheit gleichsam wie die jedes einzelnen Menschen. Die Abbildung stellt diese Entwicklung dar.
Aus Platzgründen erkläre ich ganz kurz nur die für diesen Artikel relevanten Entwicklungsphasen, die Erscheinungen von kulturellen Memes. All diese Memes sind auch heute noch in unserer Welt präsent, auch wenn in der Historie die jüngeren Memes die älteren teilweise ablösen. Immer wieder kommt es zu „Rückentwicklungen“ – sowohl individuell wie auch gesellschaftlich.
Rot ist egozentrisch. Die Welt besteht aus Wohlhabenden und Habenichtsen. Es gilt, Scham zu vermeiden, den guten Ruf der Seinen zu verteidigen und sich Respekt zu verschaffen. Man folgt Gefühlen und Impulsen unmittelbar und kämpft darum, Zwänge abzuschütteln – ohne Reue oder Schuldgefühle.
Blau ist das Sinn betonende Mem. Man opfert sich im Jetzt für eine höhere Sache, um später belohnt zu werden. Blau schafft Ordnung und Stabilität und setzt Prinzipien des rechtschaffenen Lebens durch. Ein übergeordneter Plan weist jedem seinen Platz zu.
Orange ist das Erfolgs-Mem. Es geht um das Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit, nach materiellem Überfluss, um die Suche nach der besten Lösung für ein individuelles Ziel. Wissenschaft und Technik stehen im Dienste eines besseren Lebens vieler. Lernen erfolgt durch Versuch und Irrtum. Orange ist Aufklärung, Ingenieursdenken, Schulmedizin und neoliberale Wirtschaftstheorie – die Moderne schlechthin. Wer blau denkt, kann sich kein Orange vorstellen und missversteht es als rücksichtslos-egoistisches Rot.
Grün relativiert, stellt menschliche Beziehungen in den Mittelpunkt. Hier werden das eigene innere Wesen und das der anderen erforscht. Ressourcen der Gesellschaft sollen mit allen geteilt werden. Menschen sollen sich befreien von Gier und von Dogmen. Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Win-Win, statt Win-Lose (Orange). Harmonie ist wichtiger als Status. Ab hier beginnt die Postmoderne. Wer orange geprägt ist, der deutet Grün fälschlicherweise als moralisierendes Blau.
Gelb wird das systemische Mem genannt. Kompetenz, Flexibilität und Spontanität werden zum prägendem Arbeitsmodus. „Wahrheit“ gibt es nur beobachter- und kontextbezogen. Unsicherheit ist der Normalfall, aber verunsichert nicht mehr. Persönliche Freiheit und Eigeninteresse sollen nach Möglichkeit in Einklang mit den Interessen aller gebracht werden. Die Fülle des Lebens und der Erde ist von Vielfalt geprägt und das inspiriert zu innerem Wachstum. Grün ist blind für den Unterschied zwischen Orange und Gelb. Es gibt auf der Spirale immer nur ein Verständnis für das aktuell prägende und die älteren Mem. Erst ab Gelb gibt es überhaupt ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit und Kontingenz aller bisherigen Memes.
Die „neue Weltordnung“ aus der Sicht der Memes
Mit blau versteht man unter „Neue Weltordnung“ etwas bedrohliches. Mächte mit schlechten Absichten wollen ihre Macht ausbauen oder vollenden. Ängste gehen um. Vieles verändert sich. Man fürchtet, dass die liebgewonnene Ordnung verschwinden soll. Im Extremfall wird von Bevölkerungsaustausch oder radikaler Bevölkerungsdezimierung gesprochen, von der Phantasie, ganze Volksgruppen oder „Rassen“ sollten ausgemerzt werden. Solche Ideen wurden tatsächlich schon einmal in Angriff genommen: Der Nationalsozialismus war eine solche Bewegung: Juden, Sinti, Roma und politische Gegner sollten restlos vernichtet werden. Stalinismus und Maoismus haben zwar auch fürchterliche Opfer und Verbrechen verursacht. Das ursprüngliche Ziel war aber in beiden Fällen nicht, Menschen zu vernichten, sondern Menschen sollten die neue Ordnung – die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus – freiwillig mitvollziehen. Als sehr schnell klar wurde, dass sie das nicht tun würden, sollten sie umerzogen werden. Rasch jedoch wurde die Devise Stalins zur Doktrin: „Ein Mensch = ein Problem. Kein Mensch = kein Problem.“ Unter dem Radikalmaoisten Pol Pot sollten in Kambodscha Intellektuelle zu Bauern umerzogen werden. Es genügte, eine Brille zu tragen, um auf’s Feld verfrachtet zu werden. Ziemlich schnell wurde jedoch entschieden, den Menschen mit dem Spaten, den man ihnen zuerst in die Hand drücken wollte, kurzerhand den Schädel einzuschlagen. Vor 25 Jahren haben in Ruanda und Bosnien ebenfalls Männer entschieden, Volksgruppen als angebliche Gefahr und künftige Konfliktquelle durch Massenmord auszumerzen, wenngleich sie – soweit mir bekannt – nur einen regionalen Zielkreis und keine „Weltordnung“ im Blick hatten.
Melinda Gates, der Ehefrau von Bill Gates und Vorsitzenden der gleichnamigen Stiftung wird vorgeworfen, gemeinsam mit Bill eine „neue Weltordnung“ vorzubereiten. Das geht bis hin zur Behauptung, ihre Plan sehe vor, die Menschheit mit Impfungen auf 10 Prozent zu minimieren. Eine mögliche Logik dahinter verdient es nicht, hier erklärt zu werden.
Seit Jahrhunderten wird Freimaurern unterstellt, sie würden die Weltherrschaft anstreben bzw. längst an sich gerissen haben. Die Tatsache, dass sie für Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit über Nationalitäten und Staatsgrenzen hinweg eintreten, ist manchen Machthabern, Institutionen und Beobachtern ein Dorn im Auge. Dabei sind sie weder zentral organisiert, noch lässt sich ein maßgeblicher Einfluss auf Politik und Gesellschaft im Vergleich zu anderen Gruppierungen nachweisen. Freimaurer sind weit entfernt davon, ein politisches Programm zu haben, geschweige ein zentrales. Die Tatsache, dass ihre rituellen Arbeiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden – wenngleich es davon zahlreiche für jeden zugängliche Filmaufnahmen gibt – bietet Anlass zu grausigen Unterstellungen wie etwa dass angeblich Säuglinge als Opfergaben geschlachtet würden. Solcherlei Phantasien geben vielmehr Auskunft über denjenigen, der sie hat, als über die Realität.
Dem Gründer der Paneuropa-Union Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi wurde vorgeworfen, er habe die Völker Europas vermischen wollen, um sie als kritikunfähige gefügige Unterschicht einer jüdischen intellektuellen Führungsschicht ausbeuten zu können. Als dessen Buch „Pan-Europa“ Anfang der 1920er Jahre erschien, gab es mehrere Dutzende Werke mit aus heutiger Sicht zum Teil sehr abwegigen Zukunftsszenarien. Das war einfach der Geist jener Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Nur in wenigen Fällen sollten oder konnten solche Zukunftsskizzen als Plan oder Blaupause für strategische Politik verstanden werden. Zudem sind die meisten dieser Bücher in einer für den heutigen Geschmack befremdlichen Sprache verfasst und zurecht in Vergessenheit geraten. Hitlers „Mein Kampf“ ist ein Beispiel für ein besonders verquastes und nur schwer konsumierbares Deutsch. Dagegen gilt Osswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ noch heute als Meisterwerk und einer der historischen Grundlagen der neurechten Bewegung.
Der springende Punkt ist, dass Gates, Soros, Freimaurerlogen oder Coudenhove-Kalergi Allmachtsphantasien unterstellt werden, die sie selbst nie haben bzw. hatten. Mit einem vom roten Mem geprägtem Bewusstsein kann man sich jedoch kein anderes Motiv vorstellen. Wer eine Veränderung der Verhältnisse als Zukunftsszenario beschreibt, rüttelt von der blauen Warte aus gesehen an der heiligen Ordnung und macht sich schwer verdächtig. Woher kommt diese Angewohnheit des menschlichen Geistes? Nachdem ein Großteil der Menschheit das Leben in kleinen, traditionellen Kulturen verlassen hat, gilt Fortschritt gleichbedeutend mit zunehmender Kontrolle über die Welt: die Domestizierung der Wildnis (Purpur), die Eroberung der Barbaren (Rot), die Gliederung der Gesellschaft nach Gesetz und Vernunft (Blau), das Beherrschen der Naturkräfte (Orange). Bereits in Orange jedoch hat die individuelle Freiheit und Entfaltung gegenüber Hierarchie und Kontrolle einen höheren Wert eingenommen. Äußerlich freie gut verdienende Menschen tragen einfach mehr zum Wirtschaftswachstum bei. In Grün geht es schon um die Auflösung von Sach- und Erfolgszwängen zugunsten von Mitmenschlichkeit sowie um Akzeptanz und Schutz all jener, die aus dem herrschenden Ordnungsrahmen fallen – insbesondere dem Rahmen der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Grün ist damit jedoch zunehmend überfordert, weil es die Komplexität erhöht und Menschen in diesem Mem dauerhaft in Loyalitäts- und Zuwendungskonflikte geraten. Man kann eben doch nicht allen unterstützens- und schutzbedürftigen Anspruchsgruppen gleichermaßen gerecht werden. Bindungen und Beziehungen stehen unter Stress.
Das grüne Mem unter Stress – zwei Auswege
Die Dilemmata, denen sich vom grünen Mem geprägten Menschen ausgesetzt fühlen, können sie nur durch Änderungen der Einstellung gegenüber sich selbst und der Mitwelt auflösen. Dafür gibt es prinzipiell zwei Auswege: Der erste ist jener der Weiterentwicklung (Gelb): Das souveräne Individuum trifft Entscheidungen unter Unsicherheit in komplexen Systemen, wertorientiert, aber unter der Gefahr, dass Entscheidungen falsch sein könnten, weil die Daten- und Faktenlage sich naturgemäß permanent ändert. Die COVID-19-Krise erfordert auf der politischen Ebene Entscheidungen auf der gelben Meme-Ebene. Dieses Bewusstseins-Mem ist nicht mehr durch Angst gesteuert wie in Grün und allen älteren Memes, sondern durch die Erweiterung des Möglichkeitenraumes, das Wissen darum, dass Komplexität nur mit Komplexität bewältigt werden kann und überhaupt dem Wissen darum, dass Komplexität nicht mit Kompliziertheit zu verwechseln ist. Ein vollständiges Wissen kann und wird es niemals geben. Der Bereich unseres Nichtwissens wächst stetig, was jedoch – anders als bei Grün – gleich- und demütig angenommen werden kann, ohne jedes Angst- oder Panikgefühl. Anders gesagt: Mit dem Grad unseres Bewusstseins über das Nichtwissen steigt unsere Weisheit.
Der zweite mögliche Ausweg aus dem grünen Dilemma ist ein Rückgriff auf ältere Bewusstseinsmuster: Da sich Grün aus den Problemen entwickelt, die Orange erzeugt, erfolgt in der Regel ein Rückgriff auf Blau: Innerhalb des blauen Memes gibt es ein einfaches Richtig/Falsch-Prinzip, Gut und Böse, Freund und Feind. In Blau muss es immer eine absolute Wahrheit geben, eine einzig richtige Form des kulturellen Zusammenlebens mit einem für alle verbindlichen Narrativ: Nationalismus, Kommunismus oder religiöser Fanatismus wie zum Beispiel Islamismus. Es ist kein Zufall, wenn man auf sich selbst so bezeichnenden „Alternativen Medien“ rasch auf simple Erklärungsmuster und Feindbild-Skizzen stößt. Einen Klick weiter ist man bereits auf Kanälen von Rechtsesoterikern. Dass sich viele von ihnen selbst gar nicht als „Rechts“ definieren, kann man nachvollziehen, werden doch keineswegs autoritäre Strukturen, eine Diktatur oder ein Führerkult propagiert, sondern die Wiederherstellung einer angeblich naturgewollten Ordnung. Das für alle Gute solle vom Krebsgeschwür des „Linksgrünversifften“ befreit werden. Adolf Hitler sah sich auch als ein von „der Vorsehung“ auserkorenen Retter der Welt vor der „jüdisch-bolschewistischen Seuche“.
Orange als Verteidiger der Bürgerrechte
Nun zu Corona: Mit dem orangen Blick sind die verordneten Einschränkungen gleichbedeutend mit einer Aufhebung freiheitlicher Bürgerrechte als Rückfall nach Blau. Und das sind sie tatsächlich dann, sobald Menschen nicht aus eigenem Antrieb heraus mit vernunft- und einsichtsgeleiteter Selbstverständlichkeit tun was aus der Sachlage nach aktuellen Wissensstand geboten ist. Die Praxis zeigt, dass sich inzwischen die Mehrheit in unserer Gesellschaft aus tief verstandener Einsicht und nicht etwa aus autoritätsfürchtiger Ergebenheit so verhält. Die meisten von uns akzeptieren Gesetze aus der Einsicht, dass das Befolgen von Übereinkünften das Leben für alle verbessert. Wir halten uns an Verkehrsregeln, um uns und anderen Verkehrsteilnehmern nicht zu schaden, nicht mehr aus Angst vor Strafzetteln. Solange es jedoch einzelne gibt, die das nicht tun, bedarf es auf der Ebene des blauen Memes leider noch immer juristisch abgesicherter Polizeimaßnahmen. Ansonsten herrscht der Kommunikationsstil politisch moderierter Hinweise von Virologen vor. Auf der Spirale im Grün/Gelb-Bereich ist genau dies kommunikativ anschlussfähig. In unserer Gesellschaft gibt es aber noch große Anteile Orange. Es reagiert derzeit mit einem ständigen Anmahnen, dass die Einschränkungen nicht nur Freiheitsrechte nehmen, sondern vor allem der Wirtschaft Schaden zufügen würden. Die größte Angst innerhalb des orangen Memes ist ein stagnierendes oder gar negatives Wirtschaftswachstum. Angstgesteuerte Reaktionsmuster („Man, was soll diese ganze Panikmache!“) verweisen auf blaue und teilweise sogar rote Memes. Ein Wiederaufkeimen von blauen und roten Memes auf politischen Führungsebenen beobachten wir bereits schon länger in den USA, Brasilien, der Türkei und Russland. Für Rot gibt es keinen Virus, sondern nur noch Feinde und Verbündete gegen die Feinde. Die Welt im Sinne eines „Wir-Gegen-Die“ zu sehen, macht uns blind gegenüber der Tatsache, dass Leben und Gesundheit in der Gemeinschaft geschehen.
Die „Matrix“ ist ein Mitmensch
Zur gleichen Zeit lässt sich an zahlreichen Beispielen in Deutschland und anderen Ländern beobachten, dass sehr viele Menschen Solidarität praktizieren, kreativ sind und sich Hilfsmaßnahmen für jene ausdenken, die schwerer betroffen sind als sie selbst. Es ist nur eine kleine Minderheit, die mit Hamsterkäufen reagiert und den einen oder anderen zunächst zögernden damit angesteckt hatte. Der Mensch ist nicht zwangsläufig egozentrisch, sondern hat die Folgen seines Handelns im Blick. Dass wir in der Gesellschaft vielfältig miteinander vernetzt und eben auch voneinander abhängig sind, zeigt sich gerade in diesen Zeiten. Da wäre es sozialer Selbstmord, nur an sich zu denken. Altruismus ist eben keine Luxusvariante sozialen Verhaltens, sondern reflektierter über den Moment hinausgehender Egoismus. Das sind Ausprägungen des grünen Memes, bei denen Menschen entdecken, dass sie durch Geben nichts verlieren, sondern etwas hinzugewinnen. Diese Erfahrung durften viele Menschen schon während der akuten Verwaltungskrise 2015 bei der Bewältigung der Aufnahme von Geflüchteten erfahren. Anders als das Spenden, welches manchmal ein schlechtes Gewissen kompensieren soll, erhöht das freigiebige sinnvolle Tun die Lebensqualität aller Beteiligten. Mitunter wird eine tiefe Spiritualität erfahrbar, jenseits von Ängsten. Von roten und blauen Memes geprägt, ist man überzeugt, das Wesen des Menschen sei voller Bosheit und Eigennutz. Inzwischen zeigt die Praxis aller Horrormeldungen der Medien zum Trotz, wenn zum Beispiel jemand zu ertrinken droht oder auf der Straße überfallen wird, die meisten Menschen eben nicht tatenlos zusehen, sondern erwiesenermaßen 90 Prozent von uns Hilfe leisten.
„Die neue Weltordnung, die die Verschwörungstheoretiker fürchten, ist ein Schattenbild der grandiosen Möglichkeit, die souveränen Wesen offen steht. Nicht länger Vasallen der Angst, können wir Ordnung im Königreich machen und eine Gesellschaft aufbauen, die sich auf die Liebe einigt, die schon durch die Ritzen in der Welt der Getrenntheit schimmert.“ (Charles Eisenstein, Die Krönung, April 2020)
Natürlich will Charles Eisenstein, der Vordenker der Occupy-Bewegung, keine Monarchie. „Königreich“ ist metaphorisch gemeint und „Krönung“ verweist auf die Chancen, die wir Menschen in der Krise wahrnehmen können – besser durch gesellschaftliche Fortentwicklung (gelb), als durch einen Rückfall in ältere Muster. Corona ist die Krone, kein Kaffee.
Spiral Dynamics® ist ein eingetragenes Warenzeichen der Spiral Dynamics Group, Inc. Das dahinter stehende Konzept wurde von Don Beck und Chris Cowan auf der Grundlage der Theorien von Clare W. Graves entwickelt.
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