Kritik ist großartig. Nur durch Kritik an der Sache verändert sich die Welt zum Besseren, entsteht Fortschritt in unserer Lebensqualität. Was ich hinter dem Etikett „Kritik“ jedoch häufig vorfinde, erscheint mir eher wie bösartige Unterstellungen: Bei der Coronapolitik ginge es nicht um Gesundheit, sondern um Versklavung. Grünen ginge es nicht um Umwelt, sondern um Bevormundung und Freiheitsberaubung, natürlich aus Verachtung für die kleinen Leute – warum auch sonst? Bei der Political Correctness ginge es nicht um Rücksichtnahme und Grundrechte von Minderheiten, sondern um falsche Identitätspolitik und Gleichschaltung – was darunter konkret verstanden wird, bleibt meist vage. Beim Thema Nachhaltigkeit ginge es nicht um Erhaltung unserer Lebensgrundlagen, sondern um Neid und Ideologie.
Woran glaubst du?
Glaubst du, die Corona-Proteste sind der legitime Ausdruck, seinen Unmut zu bekunden und die Journalisten, die von Übergriffen berichten seien eigentlich linke Aktivisten, die Übergriffe provozieren um die Protestler als Terroristen zu diffamieren? Sind diejenigen, die ein härteres Eingreifen der Polizei fordern, Anti-Demokraten? Glaubst du, dass diejenigen, die konsequentere Corona-Maßnahmen fordern, nichts von der Selbstbestimmtheit des Menschen halten und staatliche Bevormundung lieben? Glaubst du, dass Gendersternchen, Political Correctness und Minderheitenrechte Ausdruck einer linkslastigen Übermacht sind, die die Freiheit der Mehrheitsgesellschaft beschränkt? Oder glaubst du, dass rechte Umstürzler den Unmut über Corona-Politik, Gendersternchen und allem was man sonst noch in unserem Land kritisieren könnte, aufgreifen und alle Liberalen und Konservativen, die in diesen Reigen mit einstimmen, als nützliche Idioten instrumentalisieren?
Spirale Pandemie-Bewertung
Die verschiedenen Varianten der Corona Pandemie-Bekämpfung sowie Meinungen und Einschätzungen dazu lassen sich mit dem Modell der Spiral Dynamics veranschaulichen. Die Grafik stellt die Ebenen (Memes), basierend auf Grundüberzeugungen, Weltsichten und Werte handelnder und kritisierender Beobachter dar. Eine kleine Einführung zur Bedeutung der Farben gibt es in einem anderen Artikel.
Wenngleich einzelne Politiker bereits auf dem gelben Bewusstseinslevel arbeiten, sind die bisherigen Ergebnisse der Corona-Politik durch blaue (ordnungspolitische), orange (wissenschaftliche) und grüne (humanistisch-integrative) Memes geprägt. Dabei offenbart sich die akute Krise von Grün (analog, aber nicht identisch mit der gleichfarbigen Regierungspartei): Eigentlich will man weder autoritär, freiheitsbeschränkend oder bevormundend sein. Um den eigenen Überzeugungen und Werten – nicht nur aber auch – bezüglich der Corona-Politik gerecht zu werden, sieht man sich jedoch gezwungen, auf Maßnahmen aus dem blauen Bewusstseinslevel zurückzugreifen, während orange-geprägte Politiker weiterhin auf die Wirkmächtigkeit von Selbstverantwortung und Marktkräfte setzen. Außerhalb der Regierenden greifen enttäuschte grün- und orange-geprägte Menschen auf Überzeugungen und Verhaltensweisen des roten Levels zurück (gewaltbereiter Teil der Corona-Kritiker) bzw. solidarisieren sich auf dem purpurfarbenen Level. Im Prinzip ist das normal, denn in Krisenzuständen neigen wir Menschen dazu, auf ältere Memes zurückzugreifen, denn diese haben uns entwicklungsgeschichtlich deutlich länger geprägt und machen uns in unsicheren Zeiten (vermeintlich!) resistenter. Eine Chance hat eine Gesellschaft jedoch nur, wenn sie Krisen als Herausforderung begreift und nach vorn geht, dem evolutionärem Update folgt und dem gelben Meme Raum gibt, also Perspektiven- und Systemdifferenz nicht nur oberflächlich konstatiert, sondern in der Tiefe in allen Entscheidungen und Prozessen wirken lässt. Im europäischen Mittelalter war das blaue Meme noch nicht an allen politischen (und kirchlichen) Schaltstellen voll ausgeprägt. Die Pestepidemie wurde jedoch nicht durch Rückkehr nach Purpur besiegt, sondern durch stringente Maßnahmen (blau). Erst dieser mehr als ein Jahrhundert währende Prozess ermöglichte in Reaktion darauf langfristig das Erwachen des orangefarbenen Memes (Wissenschaft und Aufklärung).
Am Scheidepunkt: runter oder rauf auf der Spirale
Heute stehen wir am Scheidepunkt: Einen Rückfall in ein sozialdarwinistisches Chaos (rot) befürwortet nur eine kleine Minderheit. Einen autoritären Staat wie in China (blau) plant auch niemand von Bedeutung zu installieren – auch wenn das rot- und manche orange-geprägten Beobachter derzeit als Angst-Folie skizzieren, entweder weil sie das mangels Verständnis für entwicklungsgeschichtlich jüngere Memes tatsächlich befürchten oder (wahrscheinlicher), um die staatliche Ordnung empfindsam zu irritieren, damit sie selbst die Schalthebel der Macht ergreifen können.
Sollte unsere pluralistische Gesellschaft in einer komplexen, globalisierten, digitalisierten und mehrdeutigen Welt auf politische-geistige Konzepte aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgreifen, sehe ich im wahrsten Sinne des Wortes rot. Statt bereits erwachte Memes zu unterdrücken, gilt es, das Aufkeimen und Etablieren gelber und türkisfarbener Memes zu unterstützen. Nur wenn Politik und Gesellschaft lernen, Komplexität und Multiperspektivität anzuerkennen sowie – das wird die größte Herausforderung sein – Menschen zu integrieren, die aktuell auf den drei ältesten Ebenen (beige, purpur, rot) unterwegs sind, können wir diese und auch künftige Krisen meistern.
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