Erster Teil: ideologische Ver(w)irrung
„Als Hirnforscher muss ich sagen: Dass wir für Geld arbeiten war die dümmste Idee, die wir in unserer Menschheitsgeschichte entwickeln konnten.“ (Gerald Hüther)
Der Begriff Kapitalismus wird heute eher abwertend verwendet. Kapitalismuskritiker bleiben selten bei der Kritik der Verselbständigung der reinen Kapitalverwertungsinteressen stehen. Mit der Annahme, die Auswüchse seien zwangsläufig Ergebnis von Marktwirtschaft, prangern sie das Privateigentum an Produktionsmitteln wie auch Immobilienbesitz als Ganzes an. Ich kann dieser Zwangsläufigkeitsbehauptung wenig abgewinnen.
Die Philosophie und das Werteschema hinter einem ungebändigten Kapitalismus ist der so genannte Neoliberalismus. Ursprünglich war damit die Zusammenführung von Liberalismus und Globalisierung definiert. Die klassischen liberalen Prinzipien, wie sie in Abgrenzung der konservativen Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts die Basis heute für so selbstverständlich gehaltenen Grundrechte bildet, spielen bei dem was heute als Neoliberalismus bezeichnet wird, keine tragende Rolle mehr. Seit den 1970er Jahren gilt nämlich jene Bewegung als neoliberal, die den Staat als Interventionskraft in Bezug auf die Marktwirtschaft zum Zurücktreten bewegen soll. Was unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg mit regelmäßigen Treffen der Mont Pèlerin Society um Friedrich August Hayek, Walter Eucken und Milton Friedman begann und ab den 1960ern zunächst in einigen Pionier-Staaten wie Taiwan, Singapur und im Chile unter Pinochet wie im Versuchslabor erprobt wurde, sollte schließlich auch in Neuseeland, Großbritannien, den USA und im übrigen Westeuropa zunehmend Staatsraison werden.
Unter dem Kampfmotto „Zurückdrängens des Sozialismus’“ wurde das Projekt „Soziale Marktwirtschaft“ nach und nach zurückgestutzt. Nach dem neoliberalen Verständnis sollte der Staat sich darauf zurückziehen, den ordnungsrechtlichen Rahmen für ein freies „Entfalten der Marktkräfte“ zu schaffen sowie über Institutionen Geldwertstabilität gewährleisten. Eigentumsrechte und grenzüberschreitender Handel erhalten bei möglichen Interessenkonflikten immer Priorität. In den 1970er und -80er Jahren wurde der von staatlichen Interventionprogrammen befreite marktwirtschaftliche Kapitalismus zunächst auch als Demokratie-Garant im Kontrast zum freiheitsgefährdenden Sozialismus betrachtet. Gemeint war damit jedoch nicht mehr der von der kommunistischen Ideologie getriebene Staatssozialismus sowjetischer oder gar maoistischer Spielart, sondern eher jener eines Chile unter Allende oder des sandinistischen Nicaragua.
Die neoliberalen Ideologen sind bis heute nicht daran interessiert, zwischen totalitären stalinistischen Diktaturen und anderen linken Gesellschaftspraktiken zu unterscheiden. Die Menschenrechtslage spielt neben dem Kapitalverwertungsinteresse eine stark untergeordnete Rolle. Gerade weniger entwickelte Länder bieten enorme Wachstumschancen, Absatzmärkte und natürlich auch noch unterbewertete Immobilienpreise. Die Aussicht auf Wachstum macht mitunter sehr blind. Über Jahrhunderte war die wirtschaftswissenschaftliche Kategorie Wachstum eine marginale Kategorie. Erst in den letzten Jahrzehnten erlangte sie den Status einer Zivilreligion. Unsere Wirtschaft basiert heute auf steigenden Schulden, die nur mit der Hoffnung auf unendliches Wachstum vergeben und aufgenommen werden können. Würde auch nur ein Zehntel des im Umlauf befindlichen Geldes real in Anspruch genommen – um etwa Investitionen in die Realwirtschaft vorzunehmen – würde das Finanzsystem kollabieren. Die weltweite Zahlungsbilanz ist systematisch unausgeglichen – so als hätte die Erde Schulden beim Mars.
Eine Ökonomie, die von einer modernen quasireligiösen Verblendung geprägt ist, die uns aus der Mitte bringt, uns die Illusion vermittelt, wir seien voneinander und von der Umwelt getrennte Wesen, muss wieder zum dienendem Prinzip werden, statt dass sich alles ihrer unterzuordnen habe. Alternativen sind vorhanden und setzen sich nach und nach dort durch, wo Akteure nicht mehr allein auf den Markt als Dreh- und Angelpunkt auf ihrem Weg zum Glück setzen. „Reichtum ist ein Produkt von Arbeit. Kapital ist eine Wirkung, keine Ursache. Kapital ist ein Diener, kein Herr; ein Mittel, kein Ziel“ schrieb vor mehr ein einhundert Jahren der in der Selbsthilfe- und Erfolgslehre-Szene sehr beliebte US-Amerikaner Charles F. Haanel (The Master Key System). Zahlreiche Staaten haben diese Aussage sinngemäß in ihrer Verfassung zu stehen. Auch das deutsche Grundgesetz (Artikel 14) sieht vor, dass Eigentum und Kapital dem Gemeinwohl zu dienen haben. Von daher ist es geradezu absurd, etwa die Gemeinwohlökonomie und andere modernere Wirtschaftskonzepte als „sozialistisch“ zu diffamieren. Die neoliberale Wirtschaftsform ist mitnichten die einzige Option nach dem Scheitern sozialistischer Planwirtschaft. Der Vordenker der Gemeinwohlökonomie Christian Felber spricht von mindestens 10 durchkonzipierten Ökonomielehren, von denen an den Hochschulen heute nur noch eine einzige, nämlich die neoklassische bzw. neoliberale gelehrt würde.
Dieser Artikel ist der erste von insgesamt vier Teilen. Ein Auszug aus dem gerade erschienenen Buch „Deutschland in der Krise. Nur durch eine weise Politik zu überwinden.“
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