Ist Marktwirtschaft gleich Kapitalismus? (4)

Vierter Teil: Wer überlebt wen – Ökologie vs. Ökonomie

 

Eigentlich sollte es inzwischen selbstverständlich sein, die Umwelt als Basis unserer Wirtschaft – ja, unseres Lebens schlechthin – zu betrachten und nicht mehr länger als lästigen Kostenfaktor. Doch ein Blick auf die zunehmende Verschärfung der gesellschaftliche Diskussion bei diesem Thema genügt, um zu erkennen, dass sich auf diesem Feld in Deutschland der derzeit größte Grabenspalt auftut. Greta Thunberg und Fridays for Future klagen an: Die Politik habe den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen. Gleichzeitig muss sich die Regierung in Deutschland von anderer Seite vorwerfen lassen, sie würde mit ihrem „Öko-Wahnsinn“ die Wirtschaft ruinieren.

 

Aber wer ist die Wirtschaft? Im Fokus einer solchen Meinung steht nur ein bestimmter Teil unserer Wirtschaft, keineswegs ein Großteil und schon gar kein repräsentativer mehr, Branchen allerdings, die traditionell sehr stark sind in Public Relations und Affairs: Kohle-, Gas- und Ölindustrie, jene Automobilbauer, die vor allem auf SUVs setzen, Kreuzfahrtgesellschaften, kurzum: Unternehmen, deren Renditen unter verschärften Umweltauflagen leiden werden, wenn sie ihre lieb gewonnene bislang rentable Strategie nicht ändern. Andere Unternehmen werden wiederum profitieren.

 

Ökologie ist längst kein Thema mehr unter anderem. Sie ist zum zentralen Aggregatzustand der Politik geworden: Verkehrswende, Energiewende, Agrarwende – die Eingriffe sind tief, die nötig sind, um die Erderwärmung leidlich zu begrenzen. Die anstehenden Veränderungen werden reale Verlierer und Gewinner haben, was Lebensqualität und global gesehen Überlebensfähigkeit bedeutet. Allein in Deutschland tangiert dies schon heute soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte. Unsere politische Kultur war bisher nicht darauf vorbereitet, weil der Ernst der Lage lange ignoriert wurde und in bestimmten Kreisen bis heute als „ideologischer Blödsinn“ abgetan wird.

 

Noch immer wird nicht nach einer Politik für die Probleme gesucht, sondern die Probleme werden so zurechtgestutzt, dass sie auf die gewohnte Art passen, Politik zu machen. Die Verdrängung der ökologischen Herausforderung eines beachtlichen Anteils unserer Bevölkerung neurotisiert unsere Gesellschaft. Aber Fridays for Future und Extinktion Rebellion haben kein Problem erfunden, sondern sie spitzen es kommunikativ aus der Notwendigkeit heraus zu, dass es auch der Rest der Gesellschaft endlich wahrnimmt – mit unterschiedlichen Reaktionsmustern. Im Kern geht es darum, Kosten bzw. Schäden in die wirtschaftliche Gesamtrechnung mit aufzunehmen, für die ansonsten andere Marktteilnehmer, die öffentliche Hand, das Gesundheitswesen, künftige Generationen oder krisengeschüttelte ärmere Länder aufzukommen hätten, die uns Folgekosten in Form von Krieg und Flüchtlingen aufbürden werden.

 

„Wenn es ums Klima geht, sind Staaten schlicht nicht souverän. Sie sind auf Gedeih und Verderb dem ausgeliefert, was Menschen auf der anderen Seite des Planeten tun.“ (Yuval Noah Harari)  Der Streit um das Für- und Wider der Klimapolitik ist ein Streit um die Frage, ob wir mit einem „Weiter-wie-bisher“ das Naturkapital vernichten oder bereit sind, zu investieren um es langfristig zu erhalten. „Niemand will sich Selbstbeschränkung verordnen lassen, auf keinem Fall vom Staat.“ (Anders Indset). Daher kann sich eine nachhaltige Wirtschaft, die weit weniger Ressourcenverschleiß bedeutet als die heute dominierende, nicht durch Direktive, sondern nur durch einen Bewusstseinswandel erfolgreich behaupten.

 

Wir erleben bereits die großen Widerstände gegen die Energiewende, vereinzelt einen regelrechten Hass auf Elektromobilität, obwohl es nachweislich keine durch den Menschen spürbaren Einschränkungen durch Dieselfahrverbote gegeben hat. Menschen brauchen Angebote zur postmateriellen Erbauung, die sie freiwillig annehmen und somit gerne auf materiellen Ressourcenkonsum verzichten. „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Hans Jonas)

 

Natürlich kann das nur gelingen, wenn alle wesentlichen Global Player mitziehen. Aber wenn jeder darauf warten würde, dass der andere beginnt, blieben wir im Dilemma stecken. Glücklicherweise sind wir über diesen Punkt längst hinaus. In Dänemark ist 2019 nach der Einrichtung eines Bürgertings zur Klimapolitik ein mit kräftigen Befugnissen ausgestatteter Klimarat aus unabhängigen Experten beauftragt worden, jedes Jahr Zensuren dafür zu erteilen, inwiefern Gesellschaft und Politik an ihren Klimaschutzzielen arbeiten. 2050 soll Dänemark komplett klimaneutral sein. Bis 2030 soll die CO2-Bilanz um 70 Prozent reduziert werden. Dies ist der in Dänemark hohen Akzeptanz der Fridays for Future Bewegung zu verdanken. Selbst die Dänische Volkspartei hat sich nach der Wahl durch tätige Reue bei den zuvor als „Klimaspinnern“ diffamierten Menschen entschuldigt und gehört nun sogar zu den Unterstützern des Klimapaketes. Die Energie wird bereits zu 40 Prozent aus Windkraft gewonnen. Atomstrom gibt es in Dänemark ohnehin nicht. Die hochindustrialisierte Landwirtschaft und das Verkehrswesen mit nach wie vor steigenden CO2-Emissionen stehen dagegen noch vor gewaltigen, aber lösbaren Herausforderungen.

 

Costa Rica deckt schon heute seinen Energiebedarf beinahe zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien. Die CO2-Neutralität der Wirtschaft ist für 2021 avisiert. Die bolivianische Verfassung setzt nachhaltigen Umgang mit Ressourcen in der Landwirtschaft, dem Tourismus und anderen Bereichen als Priorität fest. Der indische Bundesstaat Sikkim hat heute schon zu 100 Prozent eine ökologische Landwirtschaft. In Singapur sieht der Green Building Masterplan für neu zu bauende Wolkenkratzer vor, dass jenes Grün in den Bau integriert werden muss, welches beim Bau verloren geht.

 

Der südpazifische Inselstaat Palau lässt sich von Besuchern vertraglich ihr Verhalten gemäß der strengen Nachhaltigkeitskriterien zusichern. Die vom Klimawandel am meisten betroffenen Malediven sind in Punkto Schutz des Ökosystems außerordentlich konsequent. In Kenia und Ruanda steht inzwischen die Verwendung von Plastiktüten unter Strafe. 

 

Fast täglich kommen neue Beispiele hinzu, die die Behauptung, Deutschland stünde als „ideologisch verblendetes Ökoland“ global auf verlorenem Posten, als Ahnungslosigkeit oder politisch motivierte Boshaftigkeit entlarven. 

 

Dieser Artikel ist der letzte von insgesamt vier Teilen. Ein Auszug  aus dem gerade erschienenen Buch „Deutschland in der Krise. Nur durch eine weise Politik zu überwinden.“

 

Zum ersten Teil

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