In immer mehr westlichen Staaten – so auch in Deutschland – existieren zwei parallele mediale Welten:
Die eine Welt spricht von Objektivität, von der Unvollständigkeit der Erkenntnis und der Vielfalt notwendigerweise subjektiver Interpretationen. Innerhalb dieser Welt wird danach sortiert,
inwiefern Erzählungen verbinden oder ob sie ausgrenzen, diskriminieren oder gar diskreditieren. Das gesellschaftliche Ideal dieser Welt ist auf möglichst umfassender Teilhabe orientiert. Sie
sieht sich aber auch genötigt, Grenzen zu setzen: eben genau dann, wenn Sprecher Menschen oder Menschengruppen ausgrenzen, diskriminieren oder diskreditieren.
Die andere Welt spricht von Wahrheit, die sie zu vertreten beansprucht. Erzählungen, die dieser widersprechen, deklariert sie als Lüge, Propaganda oder Ideologie – innerhalb dieser Lesart
definiert als verzerrte selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit. Teilhabe oder auch nur irgendein anderes gesellschaftliches Ideal wird nicht thematisiert, was jedoch nicht bedeutet, dass es
innerhalb dieser Welt keines gäbe. Das macht diese Welt zunächst sehr inklusiv. Sie definiert sich als wahrhaftig in Abgrenzung zu einem aus ihrer Sicht ideologisch verschmutzten
Mainstream.
„Alle Stimmen haben recht, aber nur teilweise.“ Ken Wilber
Vom Faktum zum Mythos
Sachlich gerät dabei so einiges durcheinander. Fakten oder Tatsachen sind für diejenigen, die an sie glauben, absolut wahr. Wer SARS-CoV-2 für eine politische Erfindung oder eine harmlose
Wodarg’sche Grippe hält, für den sind Drosten, Lauterbach, Fauci und die meisten anderen führenden Epidemiologen perfide Lügner und hält genau das für eine unerschütterliche Tatsache. Fakten
brauchen Glaube, aber Glaube braucht keine Fakten. Daher besteht zwischen den beiden Welten allein schon am Fuße der blauen Pyramide fundamentale Uneinigkeit darüber, was Fakt und was Fake ist.
Aber selbst wenn man sich auf der Faktenbasis einig ist, können Meinungen über Deutung und Bedeutung der Fakten weit auseinander gehen. Narrative sind Erzählweisen von
Ursache-Wirkungs-Beziehungen und Zusammenhängen auf der Sinnebene. Hier spielt die Phantasie des Erzählers eine genauso große Rolle wie die Phantasie der Konsumenten. Narrative erzählen uns, wie
etwas gekommen ist, was es für uns bedeuten kann oder wird. Narrative verbreiten sich in Windeseile oder sie versickern im Sumpf der Bedeutungslosigkeit. Narrative stimmen niemals zu 100 Prozent,
weil subjektive Dichtung einfach dazugehört. Das ist auch auf der nächsten Stufe kein Problem, auf der sie den Anspruch einer Welterklärung erheben (Erklärungsprinzip), selbst wenn der Anteil der
Dichtung überwiegt (Mythos). Werden dabei jedoch Menschen oder ganze Bevölkerungsgruppen verteufelt, formen sie sich zur bösartigen Unterstellung aus, wie im Antisemitismus oder bei QAnon.
Schübe gesellschaftlicher Multiples Sklerose
Die Ausdifferenzierung unserer beiden Welten erfolgte in Schüben: Den ersten starken Schub erfuhr sie während der Flüchtlingskrise 2015. Anschließend folgten kleinere mit den Themen
Nachhaltigkeit und Gendern. Die nächsten großen Schübe lieferte die Corona-Krise und die Debatte um Cancel-Culture und Identitätspolitik.
Beide Welten sehen sich in der Verteidigungsposition. Eine der Welten ist anfällig für das Andocken illiberaler Narrative, einem Geist der canceln will und Menschen wie Menschengruppen ihre Würde
abspricht. Auch Publizisten werden – oft unabsichtlich – Wirte toxischer Botschaften. Die Mehrzahl unter ihnen definieren sich nicht als „rechts“, füttern jedoch unbewusst rechte Narrative und
unterstützen nicht selten willfährig die geheimdienstliche Zersetzungsagitation der Putin-Administration. Aber das sind meine persönlichen Narrative, denen man folgen kann oder es bleiben
lässt.
Genau hinsehen: Welche Unterscheidungen werden getroffen?
Die Unterscheidung zwischen systemtreu vs. systemkritisch ist eine Gespensterdebatte. Man kann korruptes Verhalten von Parlamentariern anprangern, ohne „Systemparteien“ unter Generalverdacht zu
stellen. Man kann die Frage aufwerfen, ob Pandemiebekämpfung überhaupt eine staatliche Aufgabe sei oder ob Lockdowns mehr schaden als nützen. Man kann die Einschränkung der Legislative zugunsten
der Exekutive als höchst bedenklich kritisieren, ohne mit Unterstellungen zu operieren, bösartigste Mächte zögen die Fäden und eine Corona-Diktatur würde derzeit schlimmer wüten als alles zuvor
gekannte.
An der Klangfarbe des Applauses lässt sich zweifelsfrei erkennen, in welche Richtung ein publizistischer Multiplikator segelt – ganz gleich, ob er nun Daniele Ganser, Dirk Pohlmann, Paul Schreyer
oder Markus Langemann heißt. Motivationsguru Jürgen Höller erreicht Zigtausende mit seinen Videos, in denen er Zahlengrafiken zur Pandemie in die Kamera hält und einfach nur kommentiert: „Die
sind doch total übergeschnappt!“
Trotz allem eint uns als Gesellschaft eines; wir stehen gemeinsam am Scheideweg: Verteidigen wir die Meinungsvielfalt, die Vielfalt der Lebensentwürfe und den Schutz einer allen zustehenden
Menschenwürde? Oder ziehen wir uns auf einen kulturessentialistischen Festungskampf zurück, der sehr viele Opfer und unermessliches Leid nach sich ziehen wird. In welche Richtung dabei Lehrer wie
Alexander Dugin, Stephen Kevin Bannon oder Martin Sellner weisen, lässt sich mit gesundem Menschenverstand unzweifelhaft ausrechnen.
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