…oder um in der Musik zu bleiben: „Rechtsradikal, linksdrehend schal, oder die Mitte als smarter Schleimer“ – so sang Joachim Witt vor 32 Jahren.
Es war einmal wieder Thema: „Rechte Umtriebe“ bei unseren Sicherheitsorganen. „Gefahr im Verzug!“ – rufen die einen. „Und was ist mit den Linken?“ – rufen die anderen. Wir werden die Debatte so schnell nicht los. Die Hufeisentheorie geht wieder um.
Nun, es gibt gar keine Hufeisentheorie. Lediglich eine Hufeisenthese mit der Ausssage, Links- und Rechtsradikale gleichen sich in den Mitteln, bis zu einem gewissen Grad auch in den Ansichten, sie teilen Feindbilder und seien dabei in etwa gleich gefährlich, was die Ablehnung von Demokratie und Liberalismus betrifft. Die Hufeisenthese besagt nicht, sie würden miteinander verschmelzen. Dann wäre sie eine Ringthese.
Begriffsentwirrung
Warum gibt es keine Hufeisentheorie? Das Wort Theorie wird außerhalb der Wissenschaften unqualifiziert verwendet. Eine Theorie ist ein umfassendes transparent gemachtes Beobachtungswerkzeug, um Sachverhalte zu sehen, zu erklären und zu verstehen. Eine Theorie kann weder richtig noch falsch, sondern für einen Betrachtungsgegenstand entweder hilfreich oder weniger hilfreich sein. Genau wie ein handwerkliches Werkzeug (z.B. ein Hammer) für einen Zweck gut geeignet ist (einen Nagel in den Huf zu schlagen), hingegen für einen anderen Zweck ungeeignet, sprich: unpraktisch (den Nagel wieder aus dem Huf ziehen). Deshalb ist aber der Hammer weder richtig noch falsch an sich. Und so ist eine Theorie eine Denkbrille, die manches besser sichtbar macht, indem sie anderes ausblendet. Eine These ist eine Behauptung. Sie trifft die Aussage „So ist es.“ Dies gilt es zu beweisen oder zu widerlegen. Der Vollständigkeit halber sei noch eine dritte zumeist umgangssprachliche (und komplett falsche) Verwendungsweise des Wortes Theorie erwähnt: die normative Wunschvorstellung („So sollte es sein.“). So etwas gibt es in keiner Wissenschaft, sondern nur in Lehrbüchern, die suggerieren, sie seien „für die Praxis“.
Der politaeische Hufabdruck
Obwohl die Hufeisenthese von zahlreichen Politikwissenschaftlern widerlegt wurde, wird sie regelmäßig wieder reaktiviert, jedoch weniger in der Wissenschaft, als vielmehr in politisch motivierten Behauptungen, sowohl von Politikern wie auch politischen Beobachtern. Die jeweiligen Behauptungen müssen nicht falsch sein, sondern beleuchten immer nur einen Teilaspekt, wie etwa, das wirklich Linksradikale sich genauso wenig auf einen demokratischen Diskurs einlassen wie Rechtsradikale. Ebenso trifft zu, dass es bei beiden in den Extremformen einen Hang zum Terrorismus gibt, der in den 1970er und 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik auf der linksradikalen Seite aktiver war, während er seinerzeit im rechtsradikalen Lager nur punktuell auftauchte und erst ab den 1990er Jahren stark zugenommen hat. Ebenso ist zu beobachten, dass eine klare Abgrenzung innerhalb der Flügel gegenüber den extremen Ausprägungen schwach ausgeprägt ist bzw. gänzlich unterlassen wird.
Quer aufgeschlagene Hufeisen
Die Hufeisenthese kommt immer wieder gern zum Einsatz, um so genannte Querfront-Aktivitäten zu erklären. Man verspricht sich mit Hilfe der These die Feindseligkeit gegenüber der herrschenden Politik in Deutschland zu verstehen. Sie soll begreifen helfen, weshalb sich Menschen mit Schnittmengen in den Feindbildern verbünden, die eigentlich ansonsten sehr gegensätzliche Welt- und Menschenbilder sowie politische Visionen vertreten. Das ist an sich kein neues Phänomen, sondern war lediglich während der Zeit der bipolaren Machtblöcke marginalisiert. Seit den 1990er Jahren identifizieren sich entsprechende Politiker und politische Publizisten statt über ihre Gesellschaftsvisionen wieder häufiger über ihr Feindbild: Kapitalismus, Liberalismus, Juden. Beispiele aus der Weimarer Republik sind die so genannten Nationalbolschewisten, der „Tat-Kreis“ um Hans Zehrer und der wegen seiner theoretischen Raffinesse selbst von Sebastian Haffner hoch gelobte zeitweilige SED-Volkskammerabgeordnete Ernst Niekisch. Aus der jüngeren Geschichte werden gern die politische Gesinnungsgenese des ehemaligen RAF-Anwalts Horst Mahler sowie des Publizisten Jürgen Elsässer angeführt. Der zumeist als rechtsextrem etikettierte Karl-Heinz-Hoffmann (Wehrsportgruppe Hoffmann) propagiert in seinen Veröffentlichungen geradezu anti-nationalistische, anti-kapitalistische und was Staatsform, Umwelt- und Wirtschaftspolitik betrifft eher linke Gesellschaftskonzepte. Manchmal entscheiden sich Politiker – vermutlich auch Publizisten – weniger aus idealistischen Gründen für die eine oder andere Ausrichtung, sondern handeln opportunistisch, ökonomisch-egozentrisch oder machttaktisch. Fidel Castro wurde nachgesagt, er hätte sich erst kurz vor Beginn der kubanischen Revolution von der rechten zur linken Seite geschlagen.
Was die These nicht mehr stützt
Aus Sicht einer liberal-demokratischen Mitte sollte nicht aus dem Blick geraten, worin die Hufeisenthese total ins Leere greift, nämlich bei der genaueren Betrachtung der Unterschiede in der Sache. Ich greife lediglich drei augenfällige Aspekte auf: Strategische Zielsetzung, Gesellschaftsanalyse und psychologische Prädisposition.
- Strategische Zielsetzung: Linke Gesellschaftsutopien schließen das Glück aller Menschen ein, sie sind inklusiv und genau aus diesem Grund bis heute für viele
Menschen attraktiv. Rechte Gesellschaftsprojekte schließen immer Teile der Menschheit aus, zum Beispiel wird die Grenze zwischen Volk und Volksfeind je nach politischen Erwägungen gezogen. Rechte
politische Projekte weisen dafür kaum Differenzen auf zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das macht sie wiederum für andere durch ihre Aufrichtigkeit sehr attraktiv, während linke Projekte stets
an ihren eigenen unrealisierbaren Ansprüchen gescheitert sind. Die Revolution hat stets ihre Kinder gefressen: Bei Robespierre genauso wie bei Mao.
- Gesellschaftsanalyse: Eine linke Analyse beschäftigt sich nicht mit den Entscheidungen einzelner, sondern mit der Struktur des Wirtschafts- und
Gesellschaftssystems, die zu diesen strukturellen Effekten führt. Vereinfacht gesehen segmentieren Linke die Gesellschaft horizontal (Oben/Unten) in Klassen, während Rechte die Grenze vertikal
ziehen (Wir/Die) – im Extremfall: Volk/Volksfeind.
- Bei der psychologischen Prädisposition hole ich etwas aus: Solange sich ein beachtlicher Teil unserer Mitbürger nur unzureichend mit der Vergangenheit – also den Taten und Unterlassungen ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern – befasst, werden feinfühligere Menschen eine große Dissonanz, mitunter auch Abneigung verspüren, ihre Identität auch ethnisch bzw. national zu definieren. Das hat ganz und gar nichts mit Selbsthass zu tun, wie der österreichische Politikwissenschaftler Michael Ley in seinem Buch Die kommende Revolte und die Identitäre Bewegung in einem ihrer ersten deutschen Werbevideos irrtümlicherweise schlussfolgern. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Ausdruck der Annahme von Empfindungen, die andere – insbesondere bekennende Nationalisten – erfolgreich unterdrücken. Wer als Kind von gewalttätiger Erziehung geprägt wurde, neigt erwiesenermaßen besonders stark zu solchen Projektionen, auch weil das Urvertrauen verletzt wurde. Dabei waren bereits die gewalttätigen Eltern nicht böse an sich, sondern projizierten Bösesein auf ihr Kind. Die Eltern sind in ihrer Selbstwahrnehmung Angegriffene, die sich nur zur Wehr setzen. Sie kennen keine andere Methode sich zu behaupten, als den Willen ihres Kindes durch verbale oder tätliche Gewalt zu brechen. Das Kind ahmt dieses Verhalten nach, auch wenn es selbst sehr oft in dieser Opferrolle gelitten hat. Aufgrund der demütigenden Erziehung kann ein Mensch keine innere Stärke entwickeln und sucht daher nach äußerer Stärke. Die Verachtung des Schwächeren wird verinnerlicht und verschmilzt Selbstschutz mit machtsüchtiger Selbstwirksamkeitsempfindung. Die von Rechten aktuell wahrgenommene linke diskursive Vormacht in Politik, Medien und Gesellschaft liegt zum Gutteil im Befremden darüber begründet, dass Minderheiten und Schwächere Anspruch auf besonderen Schutz genießen – ein Genuss, in den sie selbst in der Erfahrung der Opferrolle nicht gekommen sind. Wer ein sozialdarwinistisches Weltbild pflegt und Menschen in Nützlinge und Schädlinge unterteilt, der hat kein Mitgefühl mit dem Leid der Schwachen. Er empfindet entweder nichts oder Verachtung. Wenn die Schwachen dennoch nicht zeitnah im Sinne der natürlichen Auslese aus der Welt verschwinden, wird der Sozialdarwinist ungeduldig. Seine Verachtung schlägt um in Hass. Dann sieht er sich dazu berufen, bei der „natürlichen Auslese“ nachzuhelfen. Die Begeisterung für Waffen und ein gewisser Hang zum Sadismus ist unter Rechten deutlich weiter verbreitet. Der Linke unterteilt die Menschen in Bevorteilte und Benachteiligte. Auch er sieht sich genötigt, dem natürlichem Ausgleich (auf den er sowieso weit weniger als der Rechte vertraut) nachzuhelfen: Durch Umverteilung und – wenn die Menschen diesbezüglich zu wenig Einsicht finden – durch Umerziehung. Anders als der sozialdarwinistisch geprägte Rechte, glaubt der Linke daran, dass sich Menschen ändern können. Umerziehen hat für ihn Vorrang vor Vernichtung, was nicht bedeutet, dass man dabei nennenswerte Geduld aufzubringen bereit wäre: Im Kambodscha des Pol Pot sollten Intellektuelle zu Bauern umerzogen werden. Es genügte, eine Brille zu tragen, um auf’s Feld verfrachtet zu werden. Ziemlich schnell wurde jedoch entschieden, den Menschen mit dem Spaten, den man ihnen zuerst in die Hand drücken wollte, kurzerhand den Schädel einzuschlagen. Bei Stalin hieß es: Ein Mensch, ein Problem. Kein Mensch, kein Problem.
Identitär berittener Klassenkampf
In der Weltsicht der Identitären Bewegung sind wir geprägt von einem Konflikt zwischen Globalisten und Volk: Dieser würde ausgefochten als Klassenkampf zwischen internationalem Kapital, politisch-medialen Eliten und mobiler Mittelschicht auf der einen und nationalem Kapital, lokaler Mittelschicht, Arbeitern und Angestellten auf der anderen Seite. Von der marxistischen Klassenkampftheorie grenzen sie sich ab, indem sie von der ethnokulturellen Identität als zentrale und naturgegebene Determinante ausgehen und davon abgeleitet deutliche Grenzen zwischen autochthoner und zugezogener Bevölkerung zu ziehen. Einer von ihnen als „Globalisten“ markierten Klasse unterstellen sie eine gezielte „Ersetzungsmigration“: Das autochthone Volk solle durch Migranten ausgetauscht werden. Globalisten würden einen regelrechten Kampf gegen die Völker führen. Das Etikett „Universalismus“ hält für alles her, was dem Abgrenzungs- und Erhebungsbedürfnis der Identitären zuwiderläuft. Synonym ist von „Global-Ideologien“ die Rede. Sogar die allgemeine Erklärungen der Menschenrechte wird von ihnen als Instrument zur Durchsetzung einer „universalistischen Ideologie“ abgelehnt. Man fürchtet die Auflösung der individuellen Merkmale der Völker. Bei der Unterstellung der Motive ist die skrupellose Gewinnmaximierung wohl noch die harmloseste Variante. Ihre Ideologie fußt wie die Selbstbezeichnung schon verrät auf der Überzeugung statischer Identitäten. Dass sie ihre Weltanschauung für naturgegeben und ideologiefrei halten, ist Teil der Selbstverblendung, die mit dem Glauben an statische Identitäten häufig einhergeht. Das ist psychologisch und neurophysiologisch inzwischen sehr gut untersucht.
Liberale Pferdewetten
Im Gegensatz zu Linksliberalen ist für Rechtsliberale Freiheit ein absoluter Wert. Daher sind sie in der Selbstwahrnehmung völlig ideologiefrei. Für Linksliberale ist Freiheit immer an Bedingungen geknüpft, so etwa die dass die Freiheit des einen nicht die Freiheit des anderen einschränken darf oder dass Freiheit auch an ökonomische Bedingungen geknüpft ist, wobei es darin schon einen fließenden Übergang zur Sozialdemokratie gibt (Sozialliberale). Rechtsliberale haben – auch sie leugnen es – ebenfalls eine Ideologie, die des Libertarismus, der in seiner Endkonsequenz Sozialdarwinismus ist, wobei es sich dabei in der Bezeichnung um ein Missverständnis handelt, denn Charles Darwin hat mir dieser anti-humanistischen Ideologie reichlich wenig zu tun. Deren Urheber war sein Zeitgenosse und Landsmann Herbert Spencer – den Quellen nach ein ziemlich unangenehmer Typ, was er mit einem anderen noch bekannteren Zeitgenossen gemeinsam hatte und der sogar auf demselben Friedhof seine letzte Ruhestätte fand. Sein Name: Karl Marx.
Nicht wenige Forscher und Publizisten sprechen davon, dass das Rechts-Links-Schema heute nicht mehr greift oder irreführend ist, um politische Phänomene zu verstehen. Dabei ist es nichts weiter als eine Brille, die je nach Anwendungsfall auf- und wieder abgesetzt werden kann. Ich halte diese Brille nach wie vor fallweise für hilfreich – nicht zuletzt deshalb, weil die Begriffe in Selbst- und noch viel öfter in Fremdzuschreibungen fleißig Anwendung finden.
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